Umgekehrte Historienmalerei. Zu Kathrina Rudolphs Bildtafeln

Wolfgang Ullrich
November 2002

Katalogtext von Wolfgang Ullrich zum Katalog "Kathrina Rudolph, Bilder 2001/2002" anlässlich der Debütantenausstellung in der Akademie der Bildenden Künste München, Februar 2003.

Schlagzeilen gehören zu jeder Zeitung, doch kaum minder wichtig ist das Aufmacher-Foto auf der ersten Seite, das ein Hauptereignis des jeweiligen Vortags zeigt – einen Tatort, eine Szene, die einen Konflikt oder ein Thema symbolhaft spiegelt, oder Personen, die gerade dabei sind, Geschichte zu schreiben oder Außergewöhnliches zu erleben. Solche Pressefotos, die zuerst auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurden, sind die Vorbilder für einige Serien von Tafeln, die Kathrina Rudolph seit 2001 angefertigt hat. Meist handelt es sich bei den von ihr ausgewählten Fotos um dramatische Bilder – Dokumente eines Ausnahmezustands –, aber manchmal dürfte es auch die Komposition gewesen sein, die den Ausschlag dafür gegeben hat, sich eines Bilds anzunehmen. Etliche der Bilder dürften als Fotos nicht einmal viel Aufmerksamkeit gefunden haben, sind doch in Fernsehen oder Illustrierten spektakulärere, auch aufreizendere Bilder üblich. Ihre Qualität als zeitgenössische Historienbilder offenbaren die Fotos vielmehr erst, wenn sie keine Fotos mehr sind, nämlich in der Version, die Kathrina Rudolph ihnen gibt. Sie übersetzt die Bilder in eine Sprache, die vor allem Elemente mittelalterlicher Malerei umfaßt: Einzelne Partien sind mit Poliment-Vergoldung versehen, in das Blattgold sind Muster oder Buchstaben eingestanzt, Konturen der Gegenstände oder Gewandfalten sind in den Gipsgrund eingeritzt, Helligkeiten und Schatten des Inkarnats sowie der Gewänder teilweise aus einem Mittelton heraus aufgebaut.
Diese Techniken verwandeln die Zeitungsbilder in Tafeln, die an Ikonen oder gotische Andachtsbilder erinnern. Wie dort meist Szenen aus der biblischen Geschichte dargestellt sind, erwartet der Betrachter nun – auf den ersten Blick – auch auf Rudolphs Tafeln Heilige oder Propheten, Könige und Verräter. Tatsächlich: Zunächst sind die Politiker, Terroristen oder Sportler, die Flüchtlinge oder Familien nicht als Figuren der Gegenwart zu erkennen; ihre Gesten scheinen vielmehr demselben Repertoire an Pathosformeln, derselben Gebärdensprache zu entstammen, mit der die mittelalterliche Kunst ihre Geschichten erzählt. Die Figuren wirken, als seien sie in eine Welt fester Symbole integriert, geradezu erstarrt in Ritualen, die ihnen erst Bedeutung verleihen.
Wer – beim zweiten Blick – dann jedoch bemerkt, daß auf den Tafeln 'eigentlich' eine Parteivorsitzende oder eine Verfassungsrichterin, Attentatsopfer oder Fußballspieler, oft auch namenlose Protagonisten großer Ereignisse zu sehen sind, wird verwundert sein und vielleicht sogar erschrecken: Plötzlich ist offenbar, daß die Gegenwart der Vergangenheit zum Verwechseln ähnlich sein kann, vieles sich wie eine biblische Episode und in den Kategorien eines mittelalterlichen Bilds präsentiert, ohne daß irgendetwas an der Komposition oder den Formen der Ausgangsfotos geändert werden mußte. Wo also bleiben die Errungenschaften der Moderne – die Autonomie des Individuums, der technische Fortschritt, die Rationalisierung der Lebensbedingungen, die doch als epochale Ereignisse gelten? Was ist davon zu halten, wenn das alles sich auf den Bildern nicht wiederfindet? Sind die scheinbar großen Fortschritte doch nur marginale Variationen insgesamt überzeitlicher Verhältnisse?
Mit solchen Fragen konfrontiert, kann dem Betrachter auf einmal bewußt werden, wie unreflektiert und fest die Vorstellung im kollektiven Bewußtsein verankert ist, die Gegenwart sei der Vergangenheit 'irgendwie' überlegen. Selbst wer sich nicht für fortschrittsgläubig hält, hat ein Bild vom 'finsteren Mittelalter' gespeichert, das, was Lebensqualität, Toleranz oder Humanität anbelangt, mit der Gegenwart nicht vergleichbar scheint. In der Fassung, die Kathrina Rudolph den journalistischen Bildern gibt, verfällt jene Fortschrittsgläubigkeit hingegen zur bloßen Illusion: Daß bei ihrer Malweise die Umrisse und Linien stärker betont werden, schärft etwa die Physiognomie eines Verbrechers, der gerade abgeführt wird und auf einmal so plakativ-finster wie ein Schächer aus einer altdeutschen Passion erscheint. Biblisch sieht es auch aus, wenn ekstatische Menschen um einen Baum versammelt sind, in dessen Astgabel eine Figur sitzt, und was einst der Zöllner Zachäus war, ist heute ein UN-Beauftragter, der gerade Formulare für ein Flüchtlingslager verteilt. Immer wieder erkennt der Betrachter so in der Gegenwart die Vergangenheit, eine merkwürdige Gleichheit der Epochen.
Aber nicht nur diese Erfahrung mit den Tafeln Kathrina Rudolphs widerspricht einem üblichen Geschichtsmodell. Vielmehr wird ein anderes, ähnlich beliebtes Bild von Geschichte, das diese nicht als Fortentwicklung versteht, sondern in Metaphern des Verfalls, als Prozeß einer Entzauberung oder eines Werteverlusts beschreibt, genauso infrage gestellt. Wer also glaubt, die Gegenwart sei eine überaus oberflächliche, profane, in Unverbindlichkeiten sich auflösende Epoche, wird sich wundern, wie das, was sonst in der täglichen Nachrichtenflut unterzugehen droht, in der Anverwandlung durch Kathrina Rudolph auf einmal (wieder) als existenziell und exemplarisch auffallen kann: Wer hätte schon geglaubt, daß in der Gegenwart so vieles passiert, das ähnlich bildstark und elementar ist wie das, was die alte Malerei und die Religion an Inhalten zu bieten haben? So sehr die Gegenwart auf den Tafeln Rudolphs ihres Status beraubt wird, etwas Besonderes zu sein, so sehr wird sie doch auch verzaubert; ihre Ereignisse stehen in bruchloser Tradition der großen Mythen der Menschheitsgeschichte. Und der Betrachter begreift einmal mehr, wie reflexartig und klischeehaft die Wahrnehmung sonst stattfindet, wie wenig der einerseits überschätzten Gegenwart andererseits zugetraut wird, Geschichten von symbolischer Tiefe erzählen, prägnante Bilder allgemeinmenschlicher Verhältnisse liefern zu können.
Und noch etwas ist zu bedenken: Die Tafeln von Kathrina Rudolph erinnern zwar an mittelalterliche Malerei, lassen sich aber zugleich als deren Analyse verstehen. So vermitteln sie jeweils den Eindruck des Unfertigen; man sieht zum Teil noch den bloßen Gipsgrund, und an manchen Stellen ist lediglich eine Vorzeichnung oder eine einfarbige Lasurschicht aufgetragen, ganz ohne Differenzierung, die erst durch weitere Schichten entstünde. Deutlich wird auf diese Weise die handwerkliche Grundlage der Bilder, ihre Entwicklung in mehreren, streng voneinander geschiedenen, aber genau aufeinander abgestimmten Arbeitsgängen. Bereits am Anfang entscheiden sich dabei sämtliche Details der Komposition, es bleibt dann kein Raum mehr für Spontanes und expressive Gesten. Damit verwandelt sich aber der Schnappschußcharakter, den die meisten Bilder als Fotos noch besitzen, in eine strenge Form, und als bewußte Entscheidung erscheint, was sonst den Anschein des Zufälligen haben würde. Aus dem dünnen, schnell vergilbenden Papier, auf das die Fotos in der Zeitung gedruckt sind, wird ein stabiler, sorgfältig auf Holz präparierter Bildgrund, der auf Jahrhunderte hin angelegt ist. Das alles gibt den Motiven eine eigene Gültigkeit, die sich mit der Authentizität des Fotografischen messen kann und diese auf jeden Fall an Klarheit überbietet.
Wie es Historienmalern immer wieder gelang, ein längst vergangenes Ereignis präsent und nah erscheinen zu lassen, indem sie es in ihre eigene Zeit transponierten und in einer aktuellen Ästhetik darstellten, verleiht Kathrina Rudolph ihren Sujets also mit genau entgegengesetzter Strategie besondere Einprägsamkeit: Bilder, die noch fast Gegenwärtiges zeigen, werden gerade dadurch dringlich und nachdenkenswert, daß sie die Aura – die Autorität – eines alten, sonst längst nicht mehr beherrschten Stils besitzen. Als umgekehrte Historienmalerei läßt sich daher beschreiben, was Kathrina Rudolph vollbringt – Vergegenwärtigung der Gegenwart mit Mitteln der Vergangenheit.